"Ich denke, das Ziel im Leben ist nicht, immer glücklich zu sein, sondern all unser Lachen zu lachen und all unsere Tränen zu weinen."

Marshall B. Rosenberg

Kann man Gefühle verletzen?

Nun, tatsächlich nicht. Gefühle kann man nicht verletzen. Gefühle sind unser Navigationssystem dafür, ob unser eingeschlagener Weg und die Begegnungen auf diesem Weg unsere Bedürfnisse erfüllen oder nicht. Je nachdem haben wir angenehme Gefühle („der Weg stimmt, weiter so!“) oder leidvolle bzw. alarmierende Gefühle („pass auf, eines deiner Bedürfnisse droht über die Klippe zu fahren!“). Diese Grundlogik von Emotionalität ist universell und lässt keinen Platz für ein Konzept von Verletzung jeglicher Art. Die Wendung „jemandes Gefühle verletzen“ bezieht sich also immer auf Bedürfnisse: Handlungen, die ich als Bedrohung für eines meiner Bedürfnisse wahrnehme, lösen leidvolle Gefühle aus. Wenn die Auffassung gilt, leidvolle Gefühle wären unangenehm, schmerzhaft und müssten um jeden Preis vermieden werden, so folgt daraus diese Redewendung und der Wunsch, dass andere auf die eigenen Gefühle Rücksicht nehmen. Also Handlungen zu unterlassen, die leidvolle Gefühle auslösen.

 

Ich mag an eines meiner Lieblingszitate von Marshall Rosenberg erinnern: „Was auch immer das Gefühl ist – ob Schmerz oder Freude –, es ist ein Geschenk und seine Schönheit liegt darin, dass es wahr ist und dir zeigt, dass du lebendig bist. Ich denke, das Ziel im Leben ist nicht, immer glücklich zu sein, sondern all unser Lachen zu lachen und all unsere Tränen zu weinen. Was auch immer sich in uns offenbart, es ist das Leben, das sich darin zeigt.“ [1] [2]

 

Nun haben wir bestimmt alle schon die Erfahrung gemacht, dass manche gemeinhin als unangenehm und leidvoll beschriebenen Gefühle ab und an erträglich, heilsam oder manchmal sogar angenehm empfunden werden können und manchmal aber auch als sehr, sehr unheilsam und erschöpfend. Warum ist das so? Meine Hypothese dazu ist, dass wir alle Gefühle als heilsam erleben können und dies auch regelmäßig tun, dass wir aber nicht immer Gefühle empfinden, wenn wir Gefühle empfinden, sondern Emotionen. Emotionen sind dabei alte eingefrorene Gefühle aus Kindheit, Jugend oder einer besonders auszehrenden Lebensphase voller Abhängigkeiten, Schmerz oder Traumata (mehr dazu hier). Die Begegnungen im Hier-und-Jetzt lösen zwar ein Gefühl aus, dieses wird aber von einer alten Emotion überlagert. Und diese Emotionen sind es, die in uns toben und wüten, kaum zu kontrollieren und schwer zu durchschauen sind. Ruft eine Begegnung so eine alte Emotion in uns wach, so ist dies oftmals sehr schmerzhaft und unheilsam, wenn wir nicht einfühlsam und voll liebender Güte auf die Emotion, auf uns und die Situation schauen können. Wichtiger ist aber die Erkenntnis, dass es nicht oder nur temporär die Aufgabe der anderen ist, auf dieses emotionale Muster in uns Rücksicht zu nehmen, sondern dass es unsere höchst persönliche Aufgabe ist, den alten Schmerz zu verstehen, liebevoll zu umarmen und zu heilen.

 

Weil das lange dauern kann und auch sehr zehrend ist, ist es hilfreich, wenn unser Umfeld davon weiß und versuchen kann, soviel Rücksicht zu nehmen, wie mit den eigenen Bedürfnissen vereinbar ist. Wichtig ist auch, dass das Umfeld versteht, woher die Wucht des Schmerzes kommt und sich nicht die Schuld dafür gibt. Das führt sonst zu sehr destruktiven Dynamiken und mitunter zum Abbruch von Beziehungen. Offenheit, Transparenz und ein Verständnis dafür, wie wir Menschen emotional gestrickt sind, sind unabdingbar, um in solchen Situationen in einem guten Kontakt zu sein.

 

Also, wenn wir Rücksicht nehmen, dann auf Bedürfnisse und Auslöser für emotionale Muster. Und wir verletzen nicht die Gefühle von anderen, sondern rufen meistens lediglich alten Schmerz wach. Das ist bisweilen tragisch aber grundsätzlich ist es auch ein Berührungspunkt zwischen Menschen der mit Empathie und Ehrlichkeit gestaltet werden kann.

 

[1] Marshall Rosenberg, 2012, Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation – Ein Gespräch mit Gabriele Seils, Herder, S. 18.

 

[2] Das ein Gefühl wahr ist bedeutet nach meiner Auffassung lediglich, dass es uns zeigt, dass wir ein bestimmtes Geschehen als bedürfnisrelevant deuten. Es ist insofern wahr, als das es in uns existiert. Das heißt aber nicht, dass Gefühle stets verlässliche Informationsquellen über die Wirklichkeit sind: eine Phobie gleich welcher Art besteht durchaus in realer Angst, nur ist diese oft unbegründet, das heißt entkoppelt von realer Bedrohung. Vorstellungen die von der Beschaffenheit der Wirklichkeit abweichen, führen zu Gefühlen die aus einer entsprechend informierten Position oder Perspektive nicht angemessen erscheinen.

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© Phillip Reißenweber